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Eine Schule der Wahrnehmung und ihrer Versprachlichung

Das Bukolische Tagebuch kann gelesen werden als eine Schule der Beobachtung, der Wahrnehmung und ihrer Versprachlichung. Für Lehmanns Entwicklung als Autor ist diese Sammlung von Naturstudien eine Schule des Sehens und zugleich die Vorstufe zu seinem eigenständigen lyrischen Sprechen.

Auszug aus dem Bukolischen Tagebuch vom 8. Februar 1928

Um die Februarmitte, am Valentinstag, paaren sich die Vögel.
Aber die Vögel müssen aufpassen …
Schnell. ehe der Wind wiederkommt.

Für diese Prosa gilt auch, was Lehmann über seine Lyrik sagt:

„Meine Verse verleugnen ihren Ursprung nicht. Die Sinne verschließen mir nicht den Weg zum Eigentlichen, sondern erschließen ihn. Ich suche mich auszukennen im unbekannten Diesseits, das mir für unausbesehbar gilt. Ein gelungenes Gedicht heißt mich und seinen Empfänger inmitten der Schöpfung willkommen. Als von allen Sinnen geschenkt, betrügt es deren keinen. Es ist, als ob das Diesseits sich der sorgfältigen Erkundung freue.“ (Aus: „Kunst des Gedichts“. In: GW Bd. 6, S. 353.)

„Das Gedicht drückt ein Existenzmaximum aus. Je mehr gelebtes Leben es mit festem und zartem Griff zusammenhält, desto sicherer besteht es, wie der tiefwurzelnde Strandhafer den Angriff des Flugsandes, den Raubzug der Zeit.“ (Aus: "Vorrede zu einer Lesung von Gedichten". In: GW Bd. 7, S. 170.)

„Das schlechte Gedicht stört die Zusammenhänge, statt sie herzustellen. Das Gedicht eines jüngeren Autors schildert eine Fichtenschonung als ein Regiment, nicht nur das, läßt es marschieren, bringt also Unordnung des Menschen dahin, wo es noch Ordnung der anderen Wesen gibt. Das wahre Gedicht schützt die Welt vor der Unwirklichkeit, die ihr ständig droht.“ (Aus: „Wirkungen der Literatur“. In: GW Bd. 6, S. 387.)

Die Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft präsentiert an dieser Stelle sieben weitere Tagebucheinträge aus den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts.

Das Bukolische Tagebuch
8. November 1927

... Im September brannte bis auf die Grundmauern die große Futterscheune des Pachthofes nieder, der sich abseits des Hügels zwischen Eichen bettet. Es war ein Sonntagnachmittag, und der Brand brachte den Spaziergängern, welche die Stadt ausspie, ein willkommenes Vergnügen. Sobald die klebrigen Rauchwirbel der hellen Flamme entflohen waren, scharten sich Autos, Räder, Fußgänger so dicht heran, wie sie konnten. Nach der ersten Aufregung hatte man sich still gesammelt, die kleine Spritze des Nachbargutes pumpte geisterhaft eifrig aus der Lache der sauren Wiese im Grunde und nässte das Wohnhaus. Dann rückte die Motorspritze des Städtchens an. Kleine, rosige, weißhaarige Ferkel quiekten durch die braunen Kartoffelstengel, Tauben kreisten unermüdlich über dem Feuer, weiß aufblitzend. Herrlich blausammetartig wölbte sich der dunkelnde Himmel hervor, glühend starrten die Balken. Tagelang schwelte das verbrannte Heu, dann breitete man es zur Düngung auf die Felder. Die Versicherungsgesellschaft zahlte. Der prinzliche Besitzer bedang aus, dass nicht mehr als die gezahlte Summe zum Aufbau verwendet würde. Der übervorsichtige alte Oberbaurat rechnete und rechnete, der Pächter, robust, rotbackig, drängte scheltend: „Meine Kühe müssen unter Dach“. Jeden Tag schleppten nun die Fuhrleute Ziegel und Holz und Reet, und heute steht die Scheune schon wieder, als sei nichts geschehen. Das schilfbraune Dach nimmt ihr die aufreizende Roheit des Neuen. ...

11. März 1928
... Auf den trockenen Weiden gebären die Schafmütter. Ein grauwolliges Knäuel, zartrot durchzuckt, sah ich so in sich gefallen vom Wege liegen, dass ich dachte, es wäre gestorben. Aber als ich über den Zaun klettere, erhebt es sich auf überlangen, stockigen Beinen, bettelt mit einem Stummel von Schwanz und findet unter dem regengrauen Berg von Mutter, die mich trotzig bedroht, das Euter. ...

20. Mai 1928
... Aus den Gräben zur Seite der Chaussee steigen Schwärme von kleinen Schnaken. Sie umspielen alles Lebende wie fliegende Kaulquappen und sind den Grasmücken im Weidicht willkommene Nahrung. Die großen Blätter der Klette, die geduldig den Staub tragen, den die Automobile aufjagen, glänzen vor Dank gegen den Regen. ...
... der Mensch, „der nie weiß, wie anthropomorphisch er denkt“. Er kann nicht anders, er muß alles in seine Welt tauchen, will sich ihm doch schon die Sprache nicht anders als nach der Regung seines Körpers ergeben: er begreift, besitzt, ist besessen, versteht, unterliegt, erfasst, ist bewegt und ergriffen. Mag er so müssen, wenn er nur zuweilen in tiefem Staunen denkt, dass Schlange und Vogel, Mücke und Gras, Qualle und Wasser und Wolke Welten für sich sind und den fürwitzigen Eindringling abwehren.

Ende Juli 1929
... Die Rosen blühen zwar noch, aber die meisten ruhen vom Blühen aus. Ruhe winkt. Wie erschöpft sind Wege und Bäume von den zwei Wochen der üppigen Hitze der Julimitte, die Grasnarbe sieht versengt aus, und erst nach den Regengüssen der letzten Tage erholen sich die Stengel zu neuem Wuchs. Begierig saugt sich der Blick an den noch blühenden Gestalten fest. ...
... Die Zeit des übermütigen Bergauf ist vorbei, Schwermut und Vorsicht beginnen. Aber aus den Gartenbeeten tun sich jetzt die Freudenfeuer des Nasturtiums auf, die Nuancen von Gelb, Orange und eines unbeschreiblichen Mahagonibrauns wiederholen sich und flackern, und der Sinn saugt sich daran reich. Es gewährt eine eigentümliche Freude, die Einheitlichkeit einer jeden Kreatur in all ihren Äußerungen zu belauschen, dem Zusammenhang der Form der Birnenfrucht, des Birnenblattes, des Birnenstammes und der Birnenwurzel nachzugrübeln. ...

10. September 1930
Der Ostwind schwemmt uns das Meer voll Quallen. Der Hafen ist erfüllt von ihnen, wie aus flüssigem, weißgelbem Marmor geformte Fallschirme flackern sie im Wasser. ...
...In der Lindenlaube pressen sich hellgelbe Blätter auf den Gartentisch, und der Regen klebt sie fest. Es wird früh Herbst in diesem Jahr. Aber der Mittag lockte zuweilen noch die süßigkeit des Septembers hervor. Heiß brennt die Sonne durch die weißen Wolken. Der schwarzweiße, mächtige Bulle kocht mit seinem Atem die Luft. Der Acker steht überblüht von schwefelgelbem Hederich. Er schwängert den Herbstnachmittag mit deutlichem Duft, und die Bienen stürzen sich gierig in die Kelche. ...

24. September 1930
Der aus kleinen Samenpfeilen der Früchte bestehende Kugelkranz des Wiesenbocksbarts harrt noch eine Weile, wenn der Wind den des Löwenzahns schon abgerissen hat. Und um diese Spanne länger verweilt in die Herbsttage hinein ein Sommergefühl....
...Schon heben sich vom gelbgrünen Acker die Kartoffelsammler. Erhaben und demütig zugleich erscheint ihre Gebärde, unmittelbar über den Schoß der Erde gezeichnet. Der Pflug geht über das Feld, das eben noch sommerlich die Lupine durchduftete, und zieht sie als Gründünger in die Furchen. Erst säte der Landmann sie, lockte sie zur Gestalt herauf, jetzt gibt er die Vollendeten zurück. Man denkt an den Bildhauer und Eisengießer der Renaissance, Benvenuto Cellini, der, neue Statuen zu formen, ohne Bedenken frühere Werke seiner Hand einschmelzen ließ, weil frische Bildung Fülle des Stoffes verlangte. So kennt auch die Natur kein sentimentales Zögern, und Vernichtung bedeutet ihr zugleich Zeugung.

14. Oktober 1932
Am lauen Anfang des Monats setzte sich abends, da noch das Fenster offen stand, auf die weiße Innenwand meiner kleinen Bürolampe ein Schmetterling. Grell bestrahlt ihn die elektrische Flamme. Da seine Fühler fadendünn ausliefen. Erkannte ich ihn als Motte. Der tastende Mensch sucht sich im Schauer des Unbekannten mit Hilfe des schon Gedeuteten zurecht. So redet er die silberne, dickaufliegende Rune auf den Vorderflügeln der Eule – warum ein Schmetterling so heißen kann, begreift, wer sich ihm auf in Auge gegenüberstellt – als Gamma oder Ypsilon an. Wir sind voreilig. Nicht versteht, wer schnell zu verstehen glaubt. So stammeln wir nur von dem aschgraupurpurnen Wesen. Was wissen wir von ihm? Die Gammaeule fliegt in Helle und Dämmerung, flatternd. Setzt sie sich, so erscheint sie unschlüssig, ihre Flügel zittern krampfig. Im August fliegt sie um die violetten Blütentrauben der Vogelwicke, später um die Flockenblume, die zähe Schwester der Kornblume. ...

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Literaturhinweis

Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden

Band 8: Autobiographische und vermischte Schriften
Hg. von Verena Kobel-Bänninger, Stuttgart 1999.
Aus dem Inhalt: Autobiographische Schriften; Bukolisches Tagebuch aus den Jahren 1927-1932 und 1948; Wissenschaftliche und essayistische Arbeiten der Frühzeit, Übersetzungen Lehmanns aus dem Englischen, kurze Prosa, Geleitworte, Rezensionen, Vorträge, Interviews und drei späte Aufsätze. Der Band ist sorgfältig kommentiert und enthält ein Register der Namen aus Botanik und Zoologie.