RE-1

Radikaler Antikriegsroman: Der Überläufer

Lange bevor Lehmann als Lyriker in Erscheinung trat, entstand Mitte der zwanziger Jahre sein erster Roman, Der Überläufer. Lehmann erzählt sachlich-realistisch, wie er im Ersten Weltkrieg den Schützengräben an der Westfront entkam.

Das Buch gehört – noch vor Erich Maria Remarques Megaseller Im Westen nichts Neues – zu den frühesten kriegskritischen Erzählungen der Weimarer Republik. Der S. Fischer Verlag hätte die Kriegserzählung 1927 sofort gedruckt. Doch Lehmann erörtert in einer Vor- und Nachkriegserzählung auch das Überleben der Poesie in Kriegszeiten. In dieser Kombination aus realistischer Erzählung und poetologischer Darlegung findet der Roman zunächst keinen Verleger.

Oskar Loerke, der bei Fischer als Lektor tätig war, schreibt am 17. September 1927 an Lehmann: „Kaserne, Krieg, Gefangenschaft. Dergleichen Wahres und Bezwingendes habe er über dieses Thema noch nie gelesen. Das sei ersten Ranges und tief gültig. Könnte L. sich entschließen, dieses Stück einzeln zu geben – sofort und mit Begeisterung!“

Doch Lehmann mochte weder die poetologische Vorgeschichte abtrennen noch die Nachkriegserzählung kürzen, wie es Alfred Döblin vorschlug. Auf seinem Weg von der erzählenden Prosa hin zur Lyrik wollte Lehmann das Ganze, und dies bedeutete für ihn eine Bewegung hin zur Natur.

Lehmanns Roman erschien erstmals 1962.

RE-2

Das Überleben der Poesie in der Hinwendung zur Natur

In seinem Roman Der Überläufer präsentiert Lehmann sein erstes Gedicht. Der erste Lyrikband Antwort des Schweigens folgt erst 1935. Mit einer Ausnahme sind alle Gedichte ab 1928, also nach Abschluss des Überläufer-Manuskripts entstanden. Diese Ausnahme ist das Gedicht „An meinen Sohn“. Es entstand 1923, wurde am 21. August 1924 in der Weltbühne erstveröffentlicht und ab 1930 mehrmals nachgedruckt.

In der Überläufer-Vorgeschichte wird es Hanswilli Nuch zugeschrieben und von Nuchs Sohn, einem Komponisten, zitiert und musikalisch begleitet.

An meinen Sohn
Die Winterlinde, die Sommerlinde
Blühen getrennt –
In der Zwischenzeit, mein lieber Sohn,
Geht der Gesang zu End.
Die Schwalbenwurz zieht den Kalk aus dem Hügel
Mit weißen Zehn,
Ich kann es unter der Erde
Im Dunkeln sehn.
Ein Regen fleckt die grauen Steine –
Der letzte Ton
Fehlt dem Goldammermännchen zum Liede:
Sing du ihn, Sohn.

Das Gedicht schildert schlichte Naturtatsachen: zwischen dem Blühen der Winterlinde und der Sommerlinde gibt es eine kurze Zeit, in der die Vögel nicht singen; die Schwalbenwurz, mit dem Liguster verwandt, ist eine kalkliebende Pflanze. Regentropfen auf grauen Steinen wirken fleckig, vielleicht wie Tränen? Eine bestimmte Sorte Goldammern lässt nach sechsmaligem zizizizizizi- das letzte, siebente -zi aus. Was bedeutet die Aufforderung an den Sohn, den Gesang des Goldammermännchens zu Ende zu singen? Die Antwort führt zu Lehmanns Poetologie.

Uwe Pörksen bemerkt zur Stellung des Romans Der Überläufer im Gesamtwerk Lehmanns: "Der Autor entwickelt hier, während sich seine Entscheidung zur Lyrik vorbereitet, erstmals seine Poetik. Das Ganze ist kein Kriegsroman. Es ist die Geschichte eines Ohnmächtigen, der den Krieg nicht nur als Zerstörung, sondern als absoluten Bruch mit der Natur erfährt und der nach dem Krieg durch die unbeirrbare, ausschließende, inbrünstige Bemühung, sich im Angesicht der stummen Natur von seiner Verstörung zu heilen, stellvertretend eine geheilte Schöpfung wiederzugewinnen sucht." Das „Überleben der Poesie“ gelingt nur durch genaueste, einfühlsame Naturwahrnehmung und die entsprechende Form.

Zeichen des Überlebens, der Heilung und des Gelingens – all dies wäre das Zu-Ende-Singen des Goldammergesangs. Nuch gelingt die einfühlende Naturwahrnehmung selbst im lautesten Kriegslärm, sie lässt ihn überleben, Distanz gewinnen. Als poetischer Vorleser jedoch scheitert Nuch, weil er nicht die angemessene Form findet, den Gesang zu Ende zu bringen. Doch der Weg ist vorgezeichnet.

Eine ausführliche Vorstellung dieses Romans ist als pdf-Datei verfügbar (Wolfgang Menzel: "Wilhelm Lehmann: Der Überläufer. Roman. Entstanden 1925-27, bis 1962 ungedruckt").

RE-3

Mythen und Märchen

Wilhelm Lehmann war ein großer Kenner der verschiedenen Mythologien: Nicht nur in seinen Gedichten verarbeitete er nordische, keltische, römische, griechische und indische Mythen. Die Weisheit der Sagen und Märchen sieht Lehmann in der Beschwörung einer Einheit, in der allen Wesen, sei es Tier, Pflanze oder Mensch, etwas gemeinsam ist, das auf ein Ganzes hindeutet.

Über indische Märchen schreibt Lehmann 1922: „[…] niemand und nichts ist ausgeschlossen, der Ziegenbock, das Reiskorn, das Weib, die Schlange, die Baumgötter, und auch die Götter können vergehen: nur das Ganze bleibt. Durch alle Wesen treibt es sich.“

RE-4

Literaturhinweis

Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden

Band 2: Romane I
Hg. von Jochen Meyer, Stuttgart 1984.
Enthält die drei Romane Der Bilderstürmer; Die Schmetterlingspuppe; Weingott.

Band 3: Romane II. Der Überläufer
Hg. von Uwe Pörksen. Mitarbeit: Wolfgang W. Menzel, Stuttgart 1989.

Band 4: Romane III. Der Provinzlärm
Hg. von Klaus Weissenberger, Stuttgart 1986.

Band 5: Erzählungen
Hg. von David Scrase und Reinhard Tgahrt, Stuttgart 1994.
Enthält alle bereits 1962 in den Sämtlichen Werken (Sigbert Mohn Verlag) gesammelten Erzählungen sowie zusätzlich die Novelle Michael Lippstock in der Reihenfolge ihrer Entstehung: Cardenio und Celinde; Maleen; Der bedrängte Seraph; Michael Lippstock; Vogelfreier Josef; Der Sturz auf die Erde; Verführerin, Trösterin; Böse Idylle; Die Hochzeit der Aufrührer; Die Aufführung; Der Abgesang; Die Kastanien; Das Gelächter; Der stumme Laufjunge.