Aktuelles: Cordelia Edvardsons Roman "Gebranntes Kind sucht das Feuer"

Wolfgang Menzel rezensiert Cordelia Edvardsons Roman "Gebranntes Kind sucht das Feuer"

Autor*in CBK Online-Rezension
Erschienen am: 06.10.2023


Es gibt viele literarisch bedeutende Erinnerungsbücher an die Shoah. Ruth Klügers „Weiter leben. Eine Jugend“, 1992 bei Wallstein erschienen und seitdem immer wieder aufgelegt, ist eines der bekanntesten. Die 2016 von Michael Lehmann übersetzte und von David Scrase und Wolfgang Mieder herausgegebene Sammlung „Nichts konnte schlimmer sein als Auschwitz. Überlebende des Holocaust und ihre Befreier berichten“ (Donat Verlag) enthält nicht nur Erinnerungen von im Jahr 2001 noch lebenden Opfern, sondern auch Berichte ihrer amerikanischen Befreier. Die Lebenserinnerungen der Schwedin Cordelia Edvardson erschienen 1986 erstmals auf Deutsch unter dem metaphorischen Titel "Gebrannes Kind sucht das Feuer". Sie wurden jetzt vom Hanser Verlag in aktualisierter Übersetzung und mit einem kenntnisreichen Nachwort von Daniel Kehlmann neu aufgelegt.

Ein bedeutendes Buch – mit verborgenem Bezug zu Wilhelm Lehmann. Cordelia Edvardson war die uneheliche Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer. Wegen ihres jüdischen Vaters galt Cordelia als "Volljüdin" und durfte ab 1940 nicht mehr bei der Mutter und dem Stiefvater in Berlin-Eichkamp wohnen. Sie wurde 1943 nach Auschwitz deportiert. Elisabeth Langgässer verehrte Wilhelm Lehmann, der für sie der Inbegriff des Lyrikers war, und stand seit 1936 mit ihm in Briefkontakt. 1940 schrieb sie ihm, dass ihre elfjährige Tochter Cordelia bei einem Besuch auf Lehmanns Gedicht "Pappellaub" gestoßen sei und es auswendig lerne. Lehmann wusste auch, dass Elisabeth Langgässer 1943 eine Adoption ihrer Tochter in Spanien arrangiert hatte, die das Kind in Sicherheit bringen sollte. In dieser Zeit war ihr Lehmanns  Gedicht "Schnelle Oktoberdämmerung" ein großer Trost (1942 im Band "Der grüne Gott" erschienen).

Was Lehmann wohl nicht wusste, ist das Unfassbare: Langgässer lieferte aus Egoismus ihre 14-jährige Tochter den Nazis aus. Die Umstände, so wie sie Edvardson nüchtern schildert, offenbaren das Perfide und den niederträchtigen Sadismus des Regimes. Langgässer wurde unter Druck gesetzt und gab den Druck an die Tochter weiter, nötigte sie, ein Dokument zu unterschreiben, mit dem sich Cordelia den deutschen Rassegesetzen unterwarf und dem „Abtransport in den Osten“ zustimmte. Das Mädchen konnte nicht anders, glaubte, die Mutter dadurch zu schützen.

Das Kind spürt schon 1940, "dass es gefährdet ist, spürt es im eigenen Körper, hört das Ticken der Todesuhr". Cordelia erfährt aber auch, dass ein Gedicht einem Menschen ideellen Halt zu geben vermag: "Im späteren Leben des Mädchens bestätigte sich die Erfahrung, dass man von den Worten eines Gedichts buchstäblich leben und sich ernähren kann".

Bei der Einlieferung in Auschwitz findet Cordelia auf dem Barackenboden das Foto ihrer Mutter, welches wohl heruntergefallen war, als die Wachleute ihr alle persönlichen Sachen abnahmen. Als sie die Abbildung ihrer Mutter sieht, "da weinte das Mädchen, wie es nie zuvor geweint hatte und nie wieder weinen würde". Es ist der endgültige, unwiderrufliche Abschied von einer abwesenden Mutter, die ihr Kind im Stich gelassen hat.

Cordelia Edvardson entwickelt eine Form und eine Sprache für Erlebtes und Erlittenes, die tief erschüttern. Doch die Autorin fand nach den entwürdigenden Erfahrungen in den Vernichtungslagern die Kraft, ihr eigenes Leben zu führen. Den Mutter-Tochter-Konflikt ließ sie dabei ebenso endgültig hinter sich zurück wie das Land ihrer Herkunft und dessen Sprache. Sie kehrte nicht nach Deutschland zurück, blieb in Schweden, ging als Korrespondentin des „Svenska Dagbladet“ nach Israel und starb 2012 im Alter von 82 Jahren in Stockholm.

In Wilhelm Lehmanns Nachkriegsgedicht "Atemholen" (1947) gibt es eine Kordelia: "Die Zeit steht still. Die Zirkelschnecke bändert / Ihr Haus. Kordelias Lachen hallt / Durch die Jahrhunderte. Es hat sich nicht geändert.  / Jung bin mit ihr ich, mit dem König alt." Es ist ungewiss, ob Lehmann damit und mit dem Vers "Vor dem Vergessen schützt sie, was sie litten" an Langgässer und ihre Tochter erinnern wollte. Für uns, die wir ihre Biographie kennen, ist die Namensgleichheit dennoch auffällig. Kordelia ist im Gedicht die Tochter des Königs Lear aus Shakespeares gleichnamigem Drama. Cordelia Edvardson hat mit Hilfe der Literatur ihre Humanität bewahrt, wohl auch ihr Lachen wiedergefunden. Das schützt sie vor dem Vergessen.

(Eine Interpretation des Gedichts „Atemholen“ liefert Hans Dieter Schäfer: "Hinweis auf Wilhelm Lehmann". In: Ders.: Das gespaltene Bewußtsein. 2. Aufl., Göttingen 2016, S. 213-218.)

Wolfgang Menzel

Cover zu Cordelia Edvardson, "Gebranntes Kind sucht das Feuer". Roman. Übersetzt aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein. Nachwort von Daniel Kehlmann. München (Carl Hanser Verlag) 2023
Cordelia Edvardson. Quelle: Svenska Dagbladet 08.04.1963. Photograph: Peter Engler

"Vor dem Vergessen schützt sie, was sie litten" Wilhelm Lehmann

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Über Wilhelm Lehmann

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Wilhelm Lehmann wurde am 4. Mai 1882 in Puerto Cabello (Venezuela) als Sohn eines Lübecker Kaufmanns und einer Hamburger Arzttochter geboren. Mehr lesen