Biographie & Stimmen

Biographie & Stimmen

Biographie


Wilhelm Lehmann (1882-1968), als Sohn eines deutschen Kaufmanns und einer Arzttochter in Venezuela geboren und in Wandsbek bei Hamburg aufgewachsen, begann als Erzähler, veröffentlichte Novellen und Romane, erhielt 1923 zusammen mit Robert Musil den Kleistpreis, die höchste literarische Auszeichnung der Weimarer Republik. Der promovierte Sprachwissenschaftler und Lehrer für Deutsch, Englisch und Französisch mit Verbindungen zur Reformpädagogik war von 1923-1947 Studienrat in Eckernförde und lebte dort bis an sein Lebensende. Aus erster Ehe mit der 15 Jahre älteren Martha Wohlstadt hatte er einen Sohn, aus zweiter Ehe mit Frieda Riewerts einen Sohn und eine Tochter. Als 35-Jähriger wurde er 1917 zum Kriegsdienst eingezogen und im Sommer 1918 an die Westfront gebracht. Dort desertierte er und geriet in englische Kriegsgefangenschaft.

Wilhelm Lehmann mit seinen Schulkameraden

„Es kommt mir fast vor, als hätte ich früher nie gesehen. Ein Stein, eine Baumborke frappiert mich. Greift mich bisweilen so an, dass ich es abschütteln muss. Wissen Sie, Herr Lehmann, das ist das Indische: Das bist du“ Zitat: Alfred Döblin

Seine Kriegserlebnisse verarbeitete er 1925/27 in dem damals nicht erschienenen Roman Der Überläufer. Dieses Buch markiert zusammen mit dem 1929/31 entstandenen Roman Der Provinzlärm die Hinwendung des Schriftstellers Lehmann zur Lyrik. Erste Gedichtveröffentlichungen in Zeitschriften, 1935 dann der erste Gedichtband Antwort des Schweigens, 1942 Der grüne Gott und 1946 Entzückter Staub folgten. In den 1950er und frühen 1960er Jahren gehörte der Lyriker Lehmann zu den bedeutendsten Autoren seiner Generation. Kritiker stellten ihn in eine Reihe mit Gottfried Benn und dem Lyriker Bertolt Brecht. Lehmann war durch Hörfunkvorträge, Lesungen und sein essayistisches Werk in der literarischen Öffentlichkeit präsent und anerkannt, war in Anthologien und Schullesebüchern vertreten. 1953 wurde Der Provinzlärm unter dem Titel Ruhm des Daseins erstmals gedruckt. Zum 80. Geburtstag 1962 erschienen eine dreibändige Werkausgabe und – endlich – der Roman Der Überläufer.

Wilhelm Lehmann mit seiner Frau Frieda in Seebüll, 1956 [?]
Wilhelm Lehmann (li.) 1962 mit seinem Lektor, Hans-Jürgen Meinerts

Bald nach Lehmanns Tod 1968 geriet sein Werk in Vergessenheit. Zum 100. Geburtstag 1982 erschien im Verlag Klett-Cotta mit den Gedichten der erste Band der Gesammelten Werke in acht Bänden, es gab Tagungen und eine große Lehmann-Ausstellung in Marbach am Neckar und in Kiel. Seit 2004 bringt die Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft in Eckernförde das Werk des Dichters einer größeren Öffentlichkeit nahe und bewahrt es vor dem Vergessen. Mit Veröffentlichungen, auf Tagungen und literarisch-kulturellen Veranstaltungen, auch mit Kooperationspartnern, zeigt sie die besondere Aktualität dieses Dichters auf.

Am 17. November 1968 starb Wilhelm Lehmann in Eckernförde und wurde auf dem Friedhof Westerthal nahe Windeby beigesetzt.

Stimmen


"Es ist in der Weltliteratur noch nicht dagewesen, daß jemand die einfachsten Vorgänge der Natur mit so dichterischer Plastik darstellen kann. Das unbeachtetste Unkraut wird hier zur funkelnden Mythe; alles, was wir täglich sehen und dennoch nicht sehen, weil es alltäglich unsere Netzhaut streift, erscheint als niegesehenes Wunder."

Kurt Pinthus 1918 (Herausgeber der Anthologie "Expressionismus")

"Wissen Sie, daß Ihre Bücher auf meinem Regal in der Ehrenreihe stehen, unter den Büchern, nach denen ich immer greife, um in ihnen zu blättern, zu schlürfen, hier einen Tropfen, da einen Tropfen?"

Alfred Döblin (Schriftsteller) 1923

"[.......] Daß Sie befreundet sind mit Wilh. Lehmann, freut mich. Das ist ein echter Dichter. Ich liebe seine Bücher sehr."

Hermann Hesse (Schriftsteller; 1923 in einem Brief an Hans W. Jannasch)

"Das haben wir seit Jean Paul nicht mehr in Deutschland gehört."

Max Beckmann (Maler) 1924

"‚Aus der durchhöhlten Rübe springt die Maus‘" - ein Gedicht etwa, das so beginnt und ‚Altjahrsabend‘ heißt, dringt aufs öde Feld dieser Zeit, auf die zigeunerischen Dinge, die sich da abspielen [...] Gespräch sind diese Versbilder, sie richten sich nach dem, was man in der Jugend zwischen den Zeilen gelesen hat."

Ernst Bloch (Philosoph) 1932

"Seit Wilhelm Lehmanns erstem Roman wußte man, daß die Dichtung wieder guten Boden unter die Füße bekam. Natur und Geist widersprechen sich nicht, sie werden in dieser blühenden Prosa eins."

Alfred Wolfenstein (Lyriker, Dramatiker und Übersetzer) 1932

"Einer unserer stärksten Lyriker"

Eberhard Meckel (Schriftsteller)

"Alle lyrischen Bemühungen unserer Zeit vergehen wie Wolkenschatten vor diesen Gedichten, in denen die Natur selber spricht – voll Trauer und Trost. Und ich bin fest davon überzeugt: wenn alle Wasser einst abgelaufen sind, werden Ihre Gedichte geblieben sein als der Ölbaum, von dessen Zweigen die Taube ihr Blatt gebrochen hat – – bleiben: heute für Wenige, morgen für Viele."

Elisabeth Langgässer (Lyrikerin; 1936 in einem Brief an Wilhelm Lehmann)

"‚Antwort des Schweigens‘ ist das einzige meiner Bücher, das mir erhalten geblieben ist. Ich nehme das sinnbildich: Ihre Verse werden alle Wirren der Zeit überdauern. Oft habe ich Strophen von Ihnen vor mich hingesprochen und sie haben mich merkwürdig getröstet. Wenn ich diesen Zeilen einige eigene Verse beilege, so nehmen Sie es bitte nicht als Unbescheidenheit. Ich möchte Ihnen nur zeigen, was ich dem seit Jahren währenden Umgang mit Ihren Versen verdanke: die Öffnung des Blicks. In ähnlicher Weise haben Sie manchem der jetzigen und kommenden Lyriker den Star gestochen."

Günter Eich (Lyriker und Hörspieldichter; 1945/1946 in einem Brief an Wilhelm Lehmann)

"Das neue Buch von Lehmann [Ruhm des Daseins] habe ich mit höchstem Interesse und Bewunderung gelesen. Ein Buch, durch das erquickend die ‚goldene Spur‘ hindurchgeht, ein überaus wahres und liebes Buch." (Auf dem Schutzumschlag der Erstausgabe des Romans *Der Provinzlärm*, 1953 unter dem Titel *Ruhm des Daseins* erschienen) "Ich weiß gar nicht mehr, ob ich Ihnen je geschrieben habe, mit wie großer Freude, Teilnahme und Ergriffenheit ich Ihre ‚Mühe des Anfangs‘ gelesen habe [...] Ich habe Ihre ‚Mühe‘ sehr lieb gewonnen und bin Ihrem Weg bis Eldena mit so viel Teilnahme nachgegangen, als Sie nur irgend von einem Leser erhoffen können. Manchmal wird einem der Atem eng und man ist froh zu wissen, daß die Engpässe dieses Weges ja überwunden sind. Manchmal blickt ein rein dichterischer Satz einen an wie die Wasserprimel Sie bei der ersten Begegnung angeblickt hat."

Hermann Hesse (Schriftsteller) 1953

"Wissen Sie, wir gelten ja in bezug auf Lyrik immer als Antipoden, aber ich denke so oft und so gern an jenen Abend [...] zurück, wo wir uns unterhielten (in der Kneipe) und wo ich feststellte, daß wir soviel Gemeinsamkeiten haben, nämlich den unbeirrbaren Ernst in bezug auf die Dinge der Literatur, die tiefe Strenge in bezug auf Qualität und Leistung. Sehr schattenreich in uns beiden alles."

Gottfried Benn (Lyriker; 1956 in einem Brief an Wilhelm Lehmann)

"Was ist das doch für ein bezaubernder Dichter! Wo gibt es heute noch eine so besinnliche Anmut, so leichte Formen des Umgangs mit altem und jungem Bildungsgut, ohne daß sich irgendwo der Gedanke an Epigonentum aufdrängen würde. Man wird diesen geistreichen und zärtlichen Ton in der deutschen Lyrik nicht wieder vergessen."

Emil Staiger (Literaturwissenschaftler) 1957

"Wilhelm Lehmann liest seine Gedichte. Er sieht gut aus. Der schmale, kleine Mann mit dem roten, zart, aber fein geschnittenen Gesicht und den dichten weißen Haaren [...] Er liest Gedichte, wie ein Orientale seine Schmuckstücke herzeigt, sich dabei ins Delirium redend, und dann, mit noch verstärkter beschwörender Gestik, über das Gelesene Unterweisungen gibt - eine doppelte Verzückung, beim Erklären noch heftiger als beim Hersagen der Verse."

Kasimir Edschmid (Publizist) 1960

"Eine Mutfrage. Wer wagt es, sich den donnernden Zügen entgegenzustellen? Die kleinen Blumen zwischen den Eisenbahnschwellen. Dem verehrten Wilhelm Lehmann mit den allerbesten Wünschen"

Erich Kästner (Schriftsteller, Kinderbuchautor; 1962 zu Wilhelm Lehmanns 80. Geburtstag)

"Lieber verehrter Wilhelm Lehmann, teurer Meister! Meine Gedanken sind fast täglich in Eckernförde bei Ihnen, denn fast täglich blitzt einer Ihrer unvergänglichen Verse in mir auf. Und nie greife ich zu einem Ihrer herrlichen Essay-Bände, ohne dass Gedanken, Anregungen mir daraus zusprudeln, und es mir leicht ums Herz wird in der Fülle dessen wir Sie vor uns ausbreiten, woraus Sie uns schöpfen lernen."

Robert Minder (Französischer Germanist; 1962 in einem Brief an Wilhelm Lehmann)

"Wilhelm Lehmann, dem Verzauberer der Zeilen, Dinge, Wesen und Menschen."

Peter Härtling (Schriftsteller; Widmung 1962)

"Es scheint mir das Wesentliche an Lehmanns Aussagen, daß sie nirgends bei einer beschränkten, sei's auch noch so tiefen Einsicht stehenbleiben, sondern des Doppelcharakters einer jeden sich erinnern. Die Kraft dazu aber rührt her von dem Wissen um die Objektivität des Ästhetischen: daß Kunst keine Sache des Geschmacks ist, daß erst jene sie dazu machten, die keinen Geschmack haben."

Theodor W. Adorno (Soziologe, Philosoph)

"Im Jahre 1931 las ich in der ‚Literarischen Welt‘ Gedichte eines mir unbekannten Dichters. Er hieß Wilhelm Lehmann. Sie trafen mich. Ich glaubte eine neue, eine unverwechselbare Stimme zu hören. Sie stehen in ‚Antwort des Schweigens‘: ‚Dezembernacht auf den Feldern‘, ‚Untergehender Dichter‘ und vor allem das einzig schöne Gedicht ‚An meinen Sohn‘! Die keusche Schönheit der Sprache war es, die mich ergriff."

Werner Kraft (Schriftsteller, Literaturkritiker) 1973

"Entscheidend für Wilhelm Lehmanns Poesie und seine poetologischen Essays – schöpferisches und kritisches Vermögen waren für ihn zuletzt identisch – blieb der Gedanke, daß die Gesetze der natürlichen Welt und die der Dichtung im Grunde ihres Wesens miteinander übereinstimmen. Kunst verstand der als ‚Jubel der Materie‘. Das sinnliche Dasein erlebte für ihn im Wort seine Wiedergeburt. ‚Der Wesen Signatur‘ (so lautet eine Dichtzeile) wollte er sichtbar machen. Es galt, die Dinge aus der Stickluft des Klischees zu."

Walter Helmut Fritz (Lyriker) 1999

"Das Ich ist aus der Schöpfung gefallen, unruhig, hungrig nach Sinn. Keine Naturbeschreibung! Lehmann ist Dichter der Existenz, dem es angesichts einer gewalttätigen, bevormundenden, herrschsüchtigen Welt um ein Sichauswirkenlassen des Seins, um eine Wiederherstellung des Ichs an der Natur zu tun ist. [...] Seine Sprache ist unverbraucht, exakt und enthusiastisch."

Uwe Pörksen (Sprachwissenschaftler, Schriftsteller) 2002

"Mit den Gedichten Wilhelm Lehmanns gehe ich seit einem halben Jahrhundert um [...] Auch wenn mich Lyriker wie Peter Huchel, Theodor Kramer, Johannes Bobrowski, Erich Jansen unmittelbarer beeinflusst und konzeptionell bestimmt haben, zählt Wilhelm Lehmann wegen seiner poetischen Genauigkeit und Beobachtungsschärfe zu den großen Vorbildern, die meine Vorstellung von Poesie festigen und nuancieren helfen."

• Wulf Kirsten (Lyriker) 2003

"Für mich war und ist Wilhelm Lehmann ein Poet schlechthin."

Bernhard Zeller (Literaturwissenschaftler) 2004

"Damals, Anfang der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, war Wilhelm Lehmann eine Zeitlang mein Gott. Von den vier großen Lyrikern der expressionistischen Generation haben zwei, poetisch wie poetologisch, enorme Triumphe gefeiert: Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Die beiden andern, Oskar Loerke und Wilhelm Lehmann, hatten zeitweise durchaus Einfluß auf junge Kollegen, fanden aber nie ein größeres Publikum."

Harald Hartung (Lyriker und Literaturkritiker) 2006

"Gestern habe ich eine Hornisse betrachtet, wie sie am Gartenstuhl schabte fürs Nest, und mir dazu ein Hornissengedicht von Lehmann gewünscht, zum Widerspiel, bei all den Faltern, Zug- und Nichtzugvögeln. Ein schwarzgelber Indianer buddelte da im Holz, bäuchlings: Hallo Lehmann! Das Überdachende an allem, was ich nun, und zuletzt mit wachsender Freude, von ihm gelesen habe: Damals, als er dichtete, ging es dabei noch um alles (in der Welt). Und das überträgt sich, das spürt man, und das lernt man. Schön, wie er sagt, dem E. Jünger ging's nur um ‚tote Schmetterlinge‘. Bei L. geht's uns Leben, Schwebenlassen, auch im Sterbensbitter."

Peter Handke (Schriftsteller) 2007

"Vom Gedichtemachen [...] verstand Lehmann etwas, und seine Gedichte waren und sind immer noch mehr als ein ‚Gräserbewispern‘. Kein ‚Andichten der Natur‘ – nach Benn eine lyrische Todsünde – kein analoges ‚Wie‘, die Natur selber spricht aus Lehmanns Gedichten. Immer wieder muss man sich die Augen wischen, um zu sehen, was alles in dieser norddeutschen Gedichtlandschaft ein Zuhause gefunden hat.

Doris Runge (Lyrikerin) 2016

"Gedichte haben wenig mit Zauberei, dafür viel mit Spracharbeit und Genauigkeit, auch mit dem selbstkritischen, skeptischen Blick auf das eigene Schaffen zu tun, vielleicht wird man aber trotzdem von einer Magie zweiter Ordnung sprechen können, wenn wir eine jener ‚bezaubernden Quallen des Meeres‘ betrachten, einen Tausendfüßler, der mit ‚weichen Pinselstrichen‘ geht – oder Lehmanns ‚Abgeblühten Löwenzahn‘, der einem Gedicht den Titel gibt und derart weiterblühen darf. Wer es gelesen hat, geht langsamer durch die Wiesen."

Jan Wagner (Lyriker) 2016

"Lehmanns ‚Bukolisches Tagebuch‘ ist ein hervorragendes Beispiel für die Bezeichnungs- und vielleicht Beschwörungskraft, die einer Literatur zuwächst, die sich ganz auf ihre eigenen Mittel verlässt. Und ein Bericht aus schlimm bewegten Jahren, der eindringlich beweist, dass ‚das Leise stärker ist als das Laute, das Zarte als das Grobe, das Weiche als Harte‘ ist."

Stephan Wackwitz (Essayist)

"Ich kenne und schätze seine Gedichte schon sehr lange und halte sie für sehr wichtig. Gerade jetzt. Im englischsprachigen Bereich spricht man von ‚nature writing‘ im Zusammenhang mit Naturbedrohungen. Das ist was ganz Modernes und Dringliches."

Ulrike Almut Sandig (Lyrikerin und Performerin; 2018 im Interview mit dem sh:z)

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Über Wilhelm Lehmann

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Wilhelm Lehmann wurde am 4. Mai 1882 in Puerto Cabello (Venezuela) als Sohn eines Lübecker Kaufmanns und einer Hamburger Arzttochter geboren. Mehr lesen