L-1

Wilhelm Lehmann zu seinen Gedichten

"Respekt vor der Schöpfung, vor dem Daseienden, Genauigkeit des Sehens, die Empfindung, dass alles nur einmal vorhanden ist und nur in verwandelter Gestalt immer herrscht: das wäre gewissermaßen die Inhaltsangabe meiner Gedichte".

Lehmanns erläuternde Darlegung zu seinen Gedichten spricht für sich und war schon zur Zeit ihrer Niederschrift bedenkenswert. Sie erscheint heute und gerade in Zeiten von Klimawandel, Pandemie und Krieg besonders aktuell.
Die Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft präsentiert auf dieser Seite eine kleine Auswahl seiner Gedichte aus vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.

"Das gelungene Gedicht versetzt Menschen wie Dinge aus einem ungenauen in einen genauen Zustand. Es betrügt ihn und sie gerade nicht um das Dasein, sondern verleiht es ihnen."

L-2

Im Winter zu singen

Die Jäger spannen die Tellereisen,
Die Füchse entwischen.
Der Südost nietet die letzte Spalte
Über Aalen und Fischen.

Aus Lappland flogen die roten Drosseln,
Ihre Stimme fällt weich wie Schnee.
Kein Messer schneidet den Schlaf der Erde,
Auch der Maulwurf tut ihr nicht weh.

In weiser Ohnmacht werden die Larven
Für andere Zeit bewahrt.
Den trächtigen Schafen wächst das Euter,
Den Ziegenböcken der Bart.

(Datiert 25.1.1929)

L-3

Ahornfrüchte an Oskar Loerke

Gleich Sarazenensäbeln hängen
Die Ahornfrüchte bündeldicht.
Still ist es in der Weltenkammer,
Das Weltgeschrei bewegt sie nicht.

Wildhüter sagte mir der Bauer,
Sie brauchten nicht die dünne Frucht.
September trocknet ihr die Flügel,
Ein Kind hat sie zum Spiel gesucht.

Der Star, von Kälberrücken schnurrend,
Pickt nach den Schwertern, läßt es wieder;
Geweih des Hirsches streift sie müßig -
Sie glänzen, Ungebrauchte, nieder.

Ich aber brauche sie. Durch Erde und durch Himmel
Zückt meine Hand sie. Dem Getümmel
Der Menschen unsichtbar zieht meines Schlages Spur -
Sie glänzen grün und kupferrot. Von ihrer Klinge raucht
Kein Blut. Im Schlaf sich rührend, unverbraucht,
Die Schwerter sie des Dichters nur.

(Datiert 3.-6.9.1933)

L-4

Oberon

Durch den warmen Lehm geschnitten
Zieht der Weg. Inmitten
Wachsen Lolch und Bibernell.
Oberon ist ihn geritten,
Heuschreckschnell.

Oberon ist längst die Sagenzeit hinabgeglitten.
Nur ein Klirren
Wie von goldnen Reitgeschirren
bleibt,
Wenn der Wind die Haferkörner reibt.

(Datiert 28.7.1934)

L-5

Pappellaub

Es rauscht.
Wo kommt es her?
Das Laub der Pappel rauscht, als seien Blätter Meer.
Da niemand lauscht,
Laß mich es tun,
Den Kopf im Nest des Armes ruhn.

Die wilden Möhren
Blühn zu den Chören
Der Schlußgesänge
Im Mönchsgedränge
Des Starenschwarms.
im Nest des Arms
Hör ich, es schallt:
Der Somme wird alt.

Es rauscht.
Das Laub der Pappel rauscht, als seien Blätter Meer.
Sie schweigen, warten, schallen voller her,
Als freue sie, daß jemand lauscht.

(Erstabdruck Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.8.1941)

L-6

Blick auf Rom

Im Boden verschollen
Triumphgeschrei, Geheul und Gelächter,
Alle Opfer und alle Schlächter.

Dann weideten hier Kühe und Geißen,
Campo caprino, campo vaccino.

Die aufgeweckten Steine hilft mein Fuß verschleißen.
Wohin vergehe ich? Wage ich, noch zu bestehn?
Teerose, Pfirsich geben ihre Farben der römischen Vedute;
Das Mauersims besteigt der Feigenbaum mit immer wiederholtem Mute.

Über der Peterskuppel seh ich sich drehn
Eine Säule Zugvögel,
Des Weges gewiß, so tüchtig wie flüchtig.
Ich wage es, noch zu bestehn.

(Erstabdruck Deutsche Zeitung, 9.11.1959)

L-7

Sperber aus Stein

Laß nicht den Tod das Ende sein,
O falle mir noch wieder ein!
Er werde steinig nachgelebt,
In Fleisch und Blut so rasch verschwebt.

Die heilig wilde Wohlgestalt
Gräbt frühe Hand aus dem Basalt:
Den Blick, den nur die Ferne lockt;
Den Schrei, der in der Kehle stockt;
Die Schwinge, lässig angedrückt,
Von Leidenschaft nicht mehr gerückt.
Der Schnabel Sichel, Dolch der Fang:
So sitzt er ein Jahrtausend lang.

Das dauerhafte Protokoll
Liest spätes Auge andachtsvoll.
Verschlossen der basaltne Schrein,
Verschwiegenes Gedenkemein.

Wenn du für alle Zeit versteinst
Und nichts mehr willst von Da und Einst,
Vielleicht, daß doch mein Hier und Jetzt,
Wie Schlafenden ein Traum, dich letzt.

(Erstabdruck Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.3.1965)

L-8

Auf sommerlichem Friedhof

Der Fliegenschnäpper steinauf, steinab.
Der Rosenduft begräbt dein Grab.
Es könnte nirgend stiller sein.
Der darin liegt, erschein, erschein!

Der Eisenhut blitzt blaues Licht.
Komm, wisch den Schweiß mir vom Gesicht.
Der Tag ist süß und ladet ein,
Noch einmal säßen wir zu zwein.

Sirene heult, Geschützmaul bellt.
Sie morden sich: es ist die Welt.
Komm nicht! Komm nicht! Laß mich allein,
Der Erdentag lädt nicht mehr ein.
Ins Qualenlose flohest du,
O Grab, halt deine Tür fest zu!

Vgl. Wolfgang Matz, Wilhelm Lehmanns "Auf sommerlichem Friedhof (1944). In memoriam Oskar Loerke". faz.net, 08.08.2021.
Mit einer Lesung von Thomas Huber im Rahmen der Frankfurter Anthologie

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Literaturhinweis

Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden
Band 1: Sämtliche Gedichte

Hg. von Hans Dieter Schäfer, Stuttgart 1982.
Enthält alle zu Lebzeiten erschienenen Gedichtbände (Antwort des Schweigens; Der grüne Gott; Entzückter Staub; Noch nicht genug; Überlebender Tag; Abschiedslust; Sichtbare Zeit) sowie zwölf Gedichte aus den Jahren 1955-1957 und Gedichte aus dem Nachlass.